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Ein Blick auf die Uhr: schön, ich habe noch genug Zeit, mich ein paar Minuten zu den Besucher/innen der Sonneninsel zu setzen. Die Sonneninsel ist ein Ort der Inklusion, Treffpunkt für Menschen mit und ohne Behinderung, Jung und Alt. Hier ist Raum zum Kaffee trinken und zum Gespräch, hier wird gebastelt und werden Pläne für Ausflüge geschmiedet. Ein Theaterprojekt findet auf der Sonneninsel ebenso statt wie ein Computerkurs. [ … ] Gerne sitze ich ein Weilchen bei den Besucher/innen der Sonneninsel, auch ich fühle mich sehr wohl in diesem bunten Kreis. Heute ist das „Hallo“ besonders groß, da ich schon lang nicht mehr da war. Nach in paar freundlichen Worten geht’s dann in unsere Schreibstube. Ein besonderer Aspekt dieser Gruppe ist, dass die wenigsten ihre Texte in den Stunden selbst schreiben. Das macht motorisch für die meisten zu große Mühe, es geht sehr langsam und schwer. So schreibe ich die Texte an das Flipchart. Dabei wechseln sich „Solobeschreibungen“ und „Tuttitexte“ dynamisch ab. Hat jemand etwas Besonderes erlebt und ist mitten im Erzählen, so schreibe ich schnell mit, frage nach, fasse zusammen. Die meisten Texte aber entstehen in Gemeinschaft: Ich schlage ein Thema vor, zu dem alle, je nach Aufgabenstellung, ihre Meinung mitteilen oder einen Satz sagen. Manchmal höre ich der Gruppe auch einfach bei einer Diskussion zu und erlaube mir, die bedeutendsten Gedanken komprimiert und für alle lesbar an die Tafel zu schreiben. Auch daraus ergeben sich faszinierende mehrperspektivische Texte.
Zu Beginn nehme ich mir wie immer Zeit für eine ausführliche Anfangsrunde. […]
Aus den Stichworten der Anfangsrunde picke ich ein Thema heraus und stelle es in den Raum: Die Vorfreude auf das Winterwetter. Gemeinsam sammeln wir, was alles dazu gehört und fast wie von selbst steht das erste Gedicht an der Tafel. Ich trete einen Schritt zurück, lese den Text noch einmal vor und dann beginnt die Feinarbeit. Hier ist noch ein Wort zu viel, da passt eine Reihenfolge nicht. Jede und jeder ist jetzt beteiligt, das Gedicht besprechend zu verändern. So lange, bis er für alle stimmt. Das liest sich dann so:
Schneegeglitzer in der Sonne Mit dem Schlitten übern Berg – hui, da pfeift der Wind – und ab ins Tal! Im Schnee den Engel gedrückt und Bälle scharf geschossen, dem Schneemann Zylinder aufgesetzt, den alten Reiserbesen in den Arm geklemmt. Mit den Schlittschuhn übers Eis gewetzt, Hockey spielen, Pirouetten dreh'n, einen Hauch Kindheit und Glückseligkeit erwischt - voll Freude auf die warme Stube. [...]
Ein regnerischer Spätsommernachmittag in der Hildesheimer Fußgängerzone. Unter dem schützenden Vordach eines traditionsreichen Cafés sitzt eine kleine Gruppe. Die Teilnehmer/innen lassen sich weder vom Wetter noch von den vorbeiströmenden Menschen irritieren, auch wenn sie selbst neugierig beäugt werden. Denn sie schreiben. Jenseits des Klischees vom Schreiben im „stillen Kämmerlein“ sitzen sie an einem öffentlichen Ort und lassen sich von dem Gedicht „An meine Geliebte“ von Imre Maté inspirieren. Es hängt mit den Maßen 1,85 auf 1,10 Metern auf einem Plakat aus hochwertiger Kunstfaser mit hoher Lichtunempfindlichkeit und Wasserfestigkeit im Eingangsbereich eines Kaufhauses.
Wie, mögen Sie sich vielleicht fragen, passt das zusammen? Ein Gedicht, das die Stille liebt, das langsam erschlossen und in seinen Bedeutungsnuancen erfahren werden will, hängt an einem Durchgangsort, der zudem geprägt ist von Schnelllebigkeit und Konsum.
Die Lösung: Es ist Teil des Projekts „Lesezeichen“ – eines ungewöhnlichen und bundesweit einzigartigen Kunst- und Literaturprojekts in Hildesheim. Seit August 2009 lassen 25 monumentale Gedichtbanner Straßen und Plätze der kleinen Großstadt südlich von Hannover zu einem Ort der Poesie werden. An 16 prominenten Gebäuden, darunter Bahnhof, Theater und Mehrgenerationenhaus sowie an Bushaltestellen und Buchhandlungen – und, eben: an Galeria Kaufhof werden ausgewählte Gedichte von z.T. renommierten Autor/innen aus 7 Nationen gezeigt. Darunter sind Imre Máté, und Elias O. Dunu, aber auch Hildesheimer Autor/innen wie die 17-jährige Jana Dierßen oder Jo Köhler, der Initiator dieses Großprojekts.
Die Lesezeichen prägen seit August 2009 das Stadtbild. Immer wieder laden sie dazu ein, den normalen Alltagsfluss zu unterbrechen und stehenzubleiben, um ein Gedicht bewusst wahrzunehmen, um es noch tiefer zu durchdringen und auf seinen Bestand hin zu prüfen. Der Initiator selbst bemerkt zum philosophischen Hintergrund und Anliegen des Projekts: „Jeder Ort hat seinen eigenen Seelenzustand und wenn man ihn betritt, geht er auf einen über; so ähnlich ist es auch mit der Poesie und Energie eines Gedichtes, wenn sie auf den Leser übergeht.“ Wirkt nun ein besonderes Gedicht an einem ihm entsprechenden oder kontrastierenden Ort, so entsteht eine doppelt starke Wirkung: Spannungsfelder eröffnen sich zwischen dem Energiefeld bzw. Seelenzustand des Gedichtes und dem des Ortes. Diese Spannungsfelder beinhalten ein erstaunlich kreatives Potential.
Dieses kreative Potential zu nutzen und als Ausgangspunkt zum weiteren Schreiben zu verwenden, hat sich eine Workshopreihe zum Projekt zunutze gemacht. Hinter dem Titel „Schreibspuren an Lesezeichen“ verbirgt sich die Idee, an ausgewählten Lesezeichen Schreibwerkstätten durchzuführen. Bei diesem literarischen Stadtrundgang bieten die Lyrikinstallationen Anregung zum eigenen Schreiben. Aufgabe und Anreiz ist es, die Magie und die Spannungsfelder, die sich aus dem Wechselspiel zwischen Gedicht, Ort und eigener Persönlichkeit ergeben, zu erspüren und zu erforschen. Die Ergebnisse aus diesem Prozess, also die Reaktionen und Resonanzen auf Gedicht, Ort und Schreibaufgabe, bilden den Ausgangspunkt für eigene Texte.
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„Und wenn du denkst, es geht nicht mehr, kommt von irgendwo ein Lichtlein her...“ Diesen Spruch als Kind aufgeschnappt. Nachgeplappert. Später angefangen, ihn zu begreifen. Sich daran festgehalten. Lange Zeit, manchmal über Jahre hinweg. Bis es besser wird. Solang braucht es allerdings Geduld. Manchmal sehr viel davon. Kaum auszuhalten, wenn anderen das Glück winkt. Nicht selten dann die Frage: Warum ich? Wozu soll das gut sein?
Wie mag es den beiden Kindern auf der Jahreslosungskarte gehen? Ein Mädchen und ein Junge stehen im Mittelpunkt des Bildes, an der Wand, an einem Flur. Bröselnder Putz hier, leere Strombuchse dort, Flecken und Streifen vermitteln den Eindruck besserer Zeiten des Hauses. Auch den Kindern sieht man das Wohlbefinden nicht an, das gern mit Kindheit verbunden wird. Schlicht gekleidet, stehen sie vor einer Stufe, den Blick in die Kamera gerichtet. Er spricht von Zweifel, von Fragen nach Vertrauen und Sicherheit. Als hätten sie vieles gesehen, wofür sie zu jung sind. Was ihre Ängste und Hoffnungen sind oder wovon sie träumen wissen wir nicht. Auch nicht, woher das Licht kommt, das hinter ihnen aufscheint und insbesondere das Gesicht des Mädchens weich zeichnet. Aber es ist da. Es leuchtet. Und erhellt eine unwirtlich scheinende Umgebung.
Das Licht macht Hoffnung. Hoffnung darauf, dass es etwas gibt, das unerträgliche Situationen erträglich macht, diese vielleicht sogar mit Sinn erfüllt.
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aus dem nichts ein etwas gemacht tagaus tagein gesucht gerungen gefunden getan immer wieder von vorn von neuem für sich für andere, das leben aus dem all gepflückt mit freude und pflicht pausenlos atemlos und nun? nichts ruft nichts drängt ausatmen erlaubt beschaute luft empfindsame leere ruhiges sein, ausgeschöpft zu neuen wegen
Der Weidenweg greift herznah. Lauf nicht davon, möchte man rufen; tanz unter Schneevögeln den Kahlasstanz voll Innigkeit. Rutsch nicht aus auf dem Eis, das dich trennt vom Stamm, der Menschen verschmilzt und schmiege dich zum Gefährten, dass das Herzt taut in Winterszeit.
Ich halte das Zepter fest in der Hand; in der anderen die Schere führt ihr Eigenleben, durchbohrt die Nase vom Plattflunderfisch, bevor er sich ungeschoren vom Acker macht. Der Rotkopf kotzt Karten vom Tisch, die Trümpfe purzeln unter den Stuhl, den Gräten zu Füßen. Ich führe das Zepter im Kreis herum und stecke es in die Flasche zurück. Soll ein anderer diese Welt in Ordnung bringen.
Ach wie schön ist diese Welt! Ich bin und bin doch nicht. Ich gleite durch die Lüfte, lasse mich treiben, wirbeln, hierhin und dorthin. Mal in sanften Kurven nach oben, nach unten, dann wieder eine Steilkurve nach rechts, nach links, um in freiem Flug einen Moment zu verweilen.
Hier bin ich und dort zugleich, lege mich in die Münder der Menschen, in den Stift der Schreiber, in die Hände der Musikanten und bin doch – unsichtbar.
Ich bin die Grenze zwischen dem Bewusst- und dem -Sein, liege zwischen Atem- und -Hauch, schmiege mich in die Fuge von Gedanken- und -Gang. Zart bin ich und doch kann ich schneiden, weich bin ich und kann doch verletzend hart sein. Ich hauche Einsamen Freundschaft ein, gebe Trübsinnigen Trost, Alten ihre Jugend zurück und die Jungen schicke ich in manch umtriebige Tat
Öl im Getriebe bin ich, nicht Sand. Mir liegt nichts daran, den Fluss ins Stocken zu bringen, aus dem Takt zu tanzen, den Frieden zu stören.
Ich mag das Mädchen, das verliebt durch die Straßen geht, rosa Rosen im Haar, drei Zentimeter über dem Boden schwebt. Ich mag die Alte, die sich schwer auf den Stock stützt, um aus ihrem Heim in den Park zu gehen, wo am späten Laub sie sich freut. Ich mag auch den Trinker, der sein Bier allein in der Bar genießt und Schanklieder singt. Überall bin ich dabei, mache Unsichtbares sichtbar, gebe dem Ungehörten Stimme, verleihe der Idee eine Form. Und bin doch selbst nichts, nicht mal ein Wort. Doch zusammen mit meiner Familie verzaubere ich weltweit Land, Meer, Mensch, Tier mit glänzendem Farbenhauch, ich Blütenblatt eines Wortes.
Am Ende der großen Spielzeit sammelte Gott alle Teile seiner Schöpfung ein. Sonne um Sonne, Planet um Planet, Mensch um Mensch nahm er in seine Hände, liebkoste und würdigte ein jedes Gleichermaßen, bevor er es an seinen Platz im Regal seiner Schöpferwerkstatt stellte. So nahm Gott sieben Tage lang alle Elemente seiner Schöpfung zu sich zurück und hatte große Freude, denn in allem, was er zu sich nahm, sah er seinen unermüdlichen Schöpferwillen und er spürte: ja, alles war gut und alles war gut gewesen, was er erschaffen hatte, ein jedes auf seine Art.
Aber nun brauchte er eine schöpferische Pause, bevor er weiterziehen wollte, in eine andere Zeit-Raum-Dimension, um dort sein Spiel noch einmal zu spielen. Noch einmal wollte er aus dem Nichts ein All schöpfen, ein ganzes Feld von Zusammenhängen, Möglichkeiten, wollte neue Formen, neue Regeln, neue Ordnungen sich erschaffen sehen. Und in all dem wollte er wieder zugleich beides sein: Betrachter und Vollzieher, Schöpfer und Geschöpf, Geliebter und Liebender.
Als er alle Aspekte seiner Schöpfung an seinem Platze glaubte, ging er noch einmal durch die Regale, um zu prüfen, ob auch wirklich keiner fehle. Und siehe da, alle waren vorhanden. Bis auf den Mond. Wo aber war der Mond?
Gott schmunzelte, als er bemerkte, dass ausgerechnet der Mond der Erde aus dem Sonnensystem fehlte. Er war der Trabant, der immer schon seinen eigenen Willen gehabt hatte und konsequent seinen eigenen Rhythmen folgte. Meist folgte er der Sonne nach, manchmal aber auch nicht. Meist füllte und leerte er sich im Monatsturnus, manchmal jedoch nicht. Er hatte sich regelrecht einen Spaß daraus gemacht, die Meere zu steuern, Tiere zu foppen, Frauen verrückt zu machen. Aber irgendwann war auch er immer wieder seiner göttlichen Ordnung gefolgt – wenn es eben seinem Rhythmus entsprach. Also würde der Mond auch wieder auftauchen, dessen war Gott sich sicher. Vorsichtshalber schaute er dennoch ein weiteres Mal durch die Regale, ging durch sein Haus, schaute in seinem persönlichen Koffer, spitzte unter den Teppich, kramte in der Schublade, durchstöberte die Mülltonne, Schränke und Truhen. Zuletzt sah er unter seiner Daunendecke nach, ob der Mond es sich in seinem Bett gemütlich gemacht hatte. Doch, wie gedacht, der Mond war nicht in seinem Haus. Bevor Gott sich schlafen legte, trat er vor die Haustür und schaute in den blanken Himmel. Nein, kein Mond weit und breit. Nach wie vor schmunzelnd, legte Gott sich schlafen.
Am andern Morgen stand er erfrischt auf, duschte ausführlich, machte sein Bett, frühstückte und trat abermals vor seine Haustür. „Da bist Du ja“, sagte er zu dem runden Trabanten, als dieser den Weg zu seinem Anwesen heranrollte. „Ich hab Dich schon vermisst, mein Lieber. Wieder eine Extrarunde gedreht?“
„Ach, lieber Gott… Du weißt schon… Du hast ja alles eingepackt… Sonne, Sterne, … ich war so durcheinander… so ein Chaos. Da war auf einmal die Erde weg. … Ich hab sie einfach gesucht … konnte sie nirgends finden… und in der nächsten Weltraumpinte, … Du weißt schon, das Fest zum Umzug … da konnte ich doch nicht nein sagen … und dann bin ich durchs leere Weltall geflogen und hab Dich gesucht – da bin ich nun… und bitte Dich, bring mich zu meiner Erde zurück.“
Gott lächelte still in sich hinein, als er den Mond in seine Hand legte, zu sich ins Haus trug und ihn in das Regal neben die Erde legte, denn der Mond roch noch ein bisschen nach Bier.
Dann nahm er seine sieben Sachen, lud sie auf seinen Leiterwagen, schloss das Haus hinter sich zweimal ab und zog seiner Wege, ein neues Weltall zu gründen.